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Gehirn, Geist und Gewohnheit: Warum uns Routinen stabilisieren – aber Flexibilität uns heilt

  • annacarnice
  • 4. Aug.
  • 6 Min. Lesezeit

Wir leben in einer Zeit, in der Stressmanagement fast schon Pflichtprogramm ist. Zwischen Breath Work, Mood-Tracking-Apps, Achtsamkeitsinfluencern auf Instagram und Stretching-Erinnerung am Handy, begegenen uns zwei Begriffe immer wieder: Routine und Achtsamkeit.

Beide Begriffe sind in den letzten Jahren zu Buzzwords geworden - aber was steckt wirklich dahinter?


Was Achtsamkeit wirklich bedeutet

Mindfulness, oder Achtsamkeit, wird heute oft inflationär verwendet. Doch wenn wir es ernst nehmen, geht es nicht um Entspannung auf Knopfdruck, sondern um bewusste Präsenz. Der Begründer des modernen, westlichen Achtsamkeitstrainings, Jon Kabat-Zinn, definiert sie so:

The awareness that emerges through paying attention on purpose, in the present moment, and non-judgmentally..“

Drei Dinge sind dabei entscheidend:

  • Absicht: Wir richten unsere Aufmerksamkeit bewusst – nicht im Autopilot-Modus.

  • Gegenwärtigkeit: Wir bleiben im Hier und Jetzt.

  • Nicht-Werten: Wir beobachten ohne sofort zu bewerten oder zu reagieren.


Das klingt einfach, ist aber eine echte Praxis – und genau das macht sie so kraftvoll. Achtsamkeit heißt nicht, dass wir ständig glücklich, fokussiert oder diszipliniert sein müssen. Es heißt, mit dem da zu sein, was gerade ist – auch wenn es chaotisch, schwer oder unklar ist. Und das, ohne sich selbst dafür zu verurteilen.

Achtsamkeit hilft dabei nicht nur gegen Stress, sie verändert auch unsere Beziehung dazu. Studien zeigen: Sie stärkt das Immunsystem, verbessert Schlaf, reduziert chronische Schmerzen und Cortisolwerte, steigert emotionale Regulation und wirkt präventiv gegen Angst, Depressionen und sogar Rückfälle bei Sucht (Kabat-Zinn et al., Davidson et al., Oxford MBCT-Studie).

Auch sozial hat Achtsamkeit Wirkung: Sie fördert Mitgefühl, reduziert Vorurteile und verbessert unsere Beziehungen – insbesondere durch Praktiken wie Loving-Kindness-Meditation. Und all das beginnt mit etwas scheinbar Kleinem: der Entscheidung, im Moment präsent zu sein – auch beim Atmen, Gehen oder Tee trinken.


Warum Routinen uns stabilisieren

Wenn um uns herum alles schwankt – Jobmarkt, Weltgeschehen, das WLAN – dann kann eine feste Tagesstruktur wie ein Anker wirken. Die Wissenschaft bestätigt: Routinen geben Stabilität und das Gefühl von Kontrolle, was besonders in unsicheren Zeiten extrem wohltuend ist (Hou et al., 2020; Ziaka et al., 2025).

Ich erinnere mich an die Pandemiezeit: ich wurde in Kurzarbeit geschickt, hatte kaum soziale Kontakte, aber täglich morgens einen Tee, meine kleine Sporteinheit und ich fand regelmäßig Zeit zum Lesen. Minimal, aber: Es war mein Mini-Kontrollbereich, mein Rettungsring im Chaos. Es gab mir Struktur in den Tag, der sonst nur von den Grenzen des Grundstücks strukturiert wurde, auf dem ich wohnte (in Deutschland gab es zu dem Zeitpunkt Ausgangssperren).

Der Körper liebt diese wiederkehrenden Impulse: Regelmäßige Bewegung, bewusste Mahlzeiten, Pausen zur Reflexion – das alles beruhigt unser Nervensystem, insbesondere das sympathische Nervensystem, das bei Stress aktiviert wird. Wenn das dauerhaft „an“ ist, entsteht chronischer Stress, was unter anderem die Immunabwehr schwächt, Schlaf stört, den Blutdruck erhöht, Entzündungen fördert und zu Erschöpfung führen kann.


Was im Körper bei Stress passiert - wie wirkt Achtsamkeit im Gehirn?

Wenn wir Stress empfinden, sei es durch Überforderung, Unsicherheit oder emotionale Konflikte, reagiert unser Körper auf archaische Weise: Das sogenannte Fight-or-Flight-System wird aktiviert, der Körper schüttet Cortisol und Adrenalin aus. Blutdruck und Herzfrequenz steigen, die Verdauung wird gehemmt, Energie wird in die Muskulatur geleitet. Unser System bereitet sich auf das Überleben vor - nicht auf Wohlbefinden.

Diese Reaktion war sinnvoll, als wir noch vor Säbelzahntigern fliehen mussten. Heute aber reichen eine Push-Benachrichtigung, ein kritischer Kommentar oder eine zu volle To-Do-Liste und der gleiche Mechanismus springt an. Das Problem: Dauerstress, der zu Erschöpfung, Schlafstörungen, Angstzuständen, Bluthochdruck und geschwächstem Immunsystem führt.


Das menschliche Gehirn ist mit rund 100 Milliarden Neuronen das komplexeste Organ unseres Körpers. Es besteht zu etwa 60 % aus weißer Substanz (Leitungsnetzwerk) und 40 % aus grauer Substanz (Denkprozesse). Es empfängt mehr als 11 Millionen Sinneseindrücke pro Sekunde – aber unser Bewusstsein kann nur etwa 40 davon aktiv verarbeiten. Der Rest läuft automatisch und unbewusst ab.

Unsere Wahrnehmung ist dabei subjektiv gefiltert: Wir sehen nicht mit den Augen, hören nicht mit den Ohren – wir nehmen mit dem Gehirn wahr. Deshalb nehmen fünf Menschen dieselbe Situation unterschiedlich wahr. Wir sehen nicht die Welt, wie sie ist – sondern wie wir sind.

Es ist wichtig, den Unterschied zu verstehen:

  • Das Gehirn ist die physische Struktur: ein Netzwerk aus Nervenzellen, das Reize verarbeitet, Hormone steuert, Bewegungen koordiniert.

  • Der Geist ist immateriell: Er bezeichnet die Fähigkeit, Aufmerksamkeit, Energie und Informationsflüsse zu steuern – in uns selbst und in Beziehung zu anderen.

Achtsamkeit ist genau hier wirksam: Sie trainiert den Geist, um das Gehirn zu regulieren – nicht umgekehrt.


Wenn wir unter Stress stehen, leitet das Gehirn Signale zuerst an die Amygdala – das „Frühwarnsystem“ in unserem limbischen Gehirn. Das passiert innerhalb von Millisekunden. Die logische Einschätzung im Neokortex erfolgt erst später. Das erklärt, warum wir manchmal überreagieren, bevor wir „nachdenken“ konnten – das Denken kam schlicht zu spät.

Beispiel: Du siehst im Wald eine Schlange – du springst zurück. Sekunden später erkennst du: Es war nur ein Ast. Genau so funktionieren viele Stressreaktionen im Alltag – emotional, automatisch, unreflektiert.


Achtsamkeit schafft hier einen bewussten Raum zwischen Reiz und Reaktion. Regelmäßige Praxis hilft, neue neuronale Verbindungen zu bilden und alte Stressmuster zu unterbrechen. Dieser Prozess wird als Neuroplastizität bezeichnet – die Fähigkeit des Gehirns, sich durch Erfahrungen und Übung neu zu organisieren.

Studien zeigen:

  • Achtsamkeit vergrößert Areale wie den präfrontalen Cortex (logisches Denken, Impulskontrolle)

  • und verkleinert die Aktivität der Amygdala (Angstzentrum) langfristig.

  • Es entstehen neue „Autobahnen“ im Gehirn, die Selbstregulation, Gelassenheit und Empathie stärken.

Der Satz „Neurons that fire together wire together“ bringt es auf den Punkt: Was du regelmäßig denkst und tust, formt dein Gehirn.


Der Schlüssel liegt in der Regelmäßigkeit. Wer Achtsamkeit nur dann praktiziert, wenn der Stresspegel hoch ist, nutzt sie wie ein Pflaster – nicht wie ein Immunsystem.

Langfristige, regelmäßige Praxis (z. B. Atembeobachtung, achtsame Bewegung, Body-Scan) baut Resilienz auf: Das mentale Immunsystem, das uns trägt, bevor der Sturm losbricht. So lernen wir nicht nur, besser mit Stress umzugehen, sondern ihn früher zu erkennen, frühzeitiger umzusteuern und uns nicht automatisch von alten Mustern leiten zu lassen.


Zusammenfassend kann man also festhalten, dass Achtsamkeit und gut gelebte Routinen helfen, diesen Stresskreislauf zu unterbrechen. Studien zeigen, dass Achtsamkeit u.a.:

  • den Cortisolspiegel senkt

  • das Immunsystem stärkt

  • Blutdruck und Schmerzempfinden reduziert

  • die emotionale Resilienz erhöht

  • und unsere Fähigkeit zur Selbstregulation und Mitgefühl verbessert

(Kabat-Zinn et al., 1992; Davidson et al., 2003; Frederickson et al., 2008).


Routinen: Kraftquelle oder neue Pflicht?

Doch was passiert, wenn die Routine nicht mehr unterstützt, sondern belastet?

Wenn ich mich schlecht fühle, weil ich meine morgendliche Sporteinheit ausgelassen habe? Und aus einem Mal folgt vielleicht ein weiteres Mal? Und daraus entsteht wiederum Angst und eigener Druck, dranzubleiben und mich zu disziplinieren. "Sonst ist es doch auch keine Routine, oder?"

Genau hier liegt die Krux: Routinen geben Halt – aber wenn wir sie zu starr leben, können sie uns in der Flexibilität schwächen. Und dann wird’s ironisch: Die Maßnahme gegen Stress wird zur Quelle von Stress. (Hou et al., 2019)


Mindfulness statt Muss

Was mir geholfen hat: Sport nicht stets als sportliche Disziplin zu sehen, sondern als Einladung, mich täglich selbst zu fragen: Was brauche ich gerade? 

Manchmal ist das Bewegung. Manchmal nur atmen. Und manchmal ist es ehrlich gesagt ein Croissant und ein Spaziergang. Neulich habe ich den Begriff "intuitives Laufen" entdeckt und mich sofort wohlgefühlt: joggen ohne Pulsuhr, ohne Plan, ohne Ziel. Einfach nur, weil es sich gut anfühlt, mal langsam, mal schnell, mal mit Pause, mal ganz anders.

Es geht nicht um Selbstoptimierung. Es geht um Selbstfürsorge. Und das ist ein feiner, aber entscheidender Unterschied.


Mini-Routinen statt starrem Regelwerk - Achtsamkeit als Haltung

Die Forschung zeigt klar: Routinen sind wertvoll, wenn sie uns dienen, nicht wenn sie uns dominieren. Sie fördern Orientierung, Gesundheit und emotionale Stabilität. Aber sie sollten flexibel und lebendig bleiben.

Ich selbst habe heute viele kleine Mini-Routinen. Je nach Phase, Zyklus, Stimmung oder Lebenslage. Mal ist es nur Dehnen, um bewusst zur Ruhe zu kommen, mal joggen, mal einfach nur ein Glas Wasser und Stille.

Und genau das ist für mich gelebte Achtsamkeit:

Nicht jeden Tag das Gleiche tun, sondern jeden Tag bewusst entscheiden und in sich reinhören.

Das Schöne an Achtsamkeit: Sie verlangt nichts Perfektes von uns. Es geht nicht um das Vermeiden von Stress, sondern um einen neuen Umgang damit. Wie Jon Kabat-Zinn sagt:

"You can´t stop the waves, but you can learn to surf."

Unser Leben ist kein Wettbewerb in Achtsamkeit. Kein Leistungskurs in Disziplin. Sondern ein wackeliges, wunderbares Übungsfeld.

Oder wie es im Yoga so treffend heißt: it´s called a practice, not a performance.



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Sozialwissenschaftlerin, Yoga-Lehrerin, Weltenbummlerin, Sauerteigbrot-Bäckerin und vieles mehr. 

 

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