Zwischen Wissen und Demokratie: Wie die Epistemisierung des Politischen neue Spannungen schafft
- annacarnice
- 24. März
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Mai
„In der Wissensgesellschaft wird der politische Streit zum Streit um Wissen.“ Diese Diagnose von Alexander Bogner markiert einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zwischen Demokratie, Gesellschaft und Wissenschaft. In Die Epistemisierung des Politischen (2021) beschreibt Bogner eine Entwicklung, in der politische Auseinandersetzungen zunehmend auf Fragen des Wissens reduziert werden – mit weitreichenden Folgen für die demokratische Kultur.
Wissen als Währung der Moderne
Unsere Gesellschaft ist zur Wissensgesellschaft geworden: Wissen gilt als Grundlage für Fortschritt, Wohlstand und Sicherheit. Ob in politischen Entscheidungsprozessen, in ökonomischen Entwicklungen oder in alltäglichen Lebenssituationen – von Krimis über Online-Dating bis hin zur Ernährung – überall triumphiert die Vorstellung, dass rationale Analyse, Daten und Expertenurteile über Intuition und subjektive Erfahrungswelten stehen.
Wissenschaftliches Wissen bietet dabei nicht nur Orientierung, sondern auch eine gemeinsame epistemische Grundlage, auf die sich Individuen unterschiedlicher Herkunft, Klasse oder Weltanschauung beziehen können. Im Idealfall schafft dies ein geteiltes Fundament für demokratische Debatten.
Der Preis der Rationalisierung: Verlust von Konfliktkultur?
Doch genau hier setzt Bogner seine Kritik an: Wenn politische Konflikte primär als epistemische Konflikte verstanden werden – also als Differenzen im Wissen und nicht im Wollen –, dann verliert die Demokratie einen ihrer zentralen Antriebsmotoren: den offenen Streit über Werte, Interessen und gesellschaftliche Ziele. Demokratie lebt von pluralistischen Auseinandersetzungen – nicht von der bloßen Klärung, wer "recht" hat.
Die Transformation politischer Auseinandersetzung in Expertendebatten erzeugt eine gefährliche Verschiebung: Wer nicht „auf dem neuesten Stand der Forschung“ ist, wird schnell als irrational, bildungsfern oder gar gefährlich eingeordnet. Politische Gegner mutieren zu Unwissenden – nicht zu Menschen mit anderen Perspektiven.
Diese Entwicklung öffnet der Delegitimierung von abweichenden Meinungen Tür und Tor – und gefährdet letztlich die Partizipationsfähigkeit vieler Bürger*innen, die sich aus komplexen Diskursen ausgeschlossen fühlen. Der Populismus, so könnte man ergänzen, ist nicht die Ursache dieser Entwicklung, sondern ihre Reaktion.
Die Schattenseiten epistemischer Macht
Während die Wissenschaft als Institution Stabilität und Orientierung bietet, bleibt sie in vielerlei Hinsicht uneindeutig, dynamisch und kontextabhängig – gerade in Krisenzeiten (Pandemien, Klimawandel, Gentechnik). Diese Unsicherheiten werden von Teilen der Bevölkerung nicht als Zeichen wissenschaftlicher Offenheit verstanden, sondern als Beleg für Inkompetenz oder Täuschung.
Hier entstehen zwei gefährliche Tendenzen:
Wissensskepsis bis hin zur Wissenschaftsfeindlichkeit – etwa in Form von Verschwörungstheorien oder Leugnungsbewegungen.
Wissensfetischismus, der Demokratie auf ein technokratisches Regime reduziert, in dem Expertengremien über das Gemeinwohl entscheiden.
Beide Tendenzen unterminieren die Legitimität demokratischer Prozesse – entweder durch Ablehnung oder durch Entpolitisierung.
Die Unsichtbaren der Wissensgesellschaft
Was Bogner zwar andeutet, aber nicht systematisch analysiert, sind die ungleichen Voraussetzungen, mit denen Menschen am Diskurs der Wissensgesellschaft teilnehmen. Wer hat Zugang zu Bildung, zu wissenschaftlichen Informationen, zu den Codes und Praktiken der Wissenschaftskommunikation?
Gruppen, die strukturell benachteiligt sind – etwa durch Geschlecht, Ethnizität, Migrationserfahrung oder sozioökonomische Lage – erfahren die Wissensgesellschaft nicht primär als emanzipatorisch, sondern oft als exklusiv und kontrollierend. In feministischer Theorie wird dies seit langem kritisiert: Wissen ist nie neutral, sondern in Machtverhältnisse eingebettet – oder, mit Donna Haraway gesprochen, stets situiert und geprägt von der Position und Perspektive derjenigen, die es erzeugen.
Auch technologische Entwicklungen – von algorithmischer Entscheidungsfindung bis hin zu KI-basierten Profilen – verschärfen bestehende Ungleichheiten. Wer über weniger Datenkontrolle, Medienkompetenz oder Sprachmacht verfügt, wird zunehmend marginalisiert. Die vielbeschworene „Wissensgerechtigkeit“ bleibt eine rhetorische Hülle ohne strukturelle Absicherung.
Demokratisierung von Wissen – oder Entpolitisierung der Demokratie?
Bogners These wirft eine zentrale Frage auf: Wie kann eine Balance zwischen Wissenschaft und Demokratie gefunden werden? Die Antwort kann nicht sein, einfach „mehr Bildung“ zu fordern – ein klassisch technokratischer Reflex. Vielmehr braucht es eine demokratische Kultur, die:
Wissenskonflikte als politische Konflikte erkennt,
Wissenschaft kritisch einbindet, aber nicht als letzte Instanz vergöttert,
epistemische Diversität zulässt, ohne in Beliebigkeit zu verfallen,
und sozialen Zugang zu Wissen als zentrale Gerechtigkeitsfrage behandelt.
Die politische Herausforderung der Wissensgesellschaft
Die Epistemisierung des Politischen stellt nicht nur eine Verschiebung im Diskurs dar, sondern verändert die Struktur der Demokratie selbst. Wenn politische Auseinandersetzungen zunehmend als Expert*innenkonflikte geführt werden, geraten fundamentale Fragen der Gerechtigkeit, der Werteorientierung und der Machtverteilung aus dem Blick.
Statt Demokratie durch Wissen zu ersetzen, muss Wissen demokratisiert werden. Nur so lässt sich verhindern, dass das Ideal der informierten Öffentlichkeit zur Herrschaft des informierten Teils der Öffentlichkeit verkommt.








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